Artikel: Der Zipfelbund der ATV Westmark zu Münster von 1931 – eine Betrachtung von Studentenverbindung im Kontext der Universitätsgeschichte

Jeder kennt die umgangssprachliche Ausdrucksweise „jemandem am Rockzipfel hängen“, welche eine gegenwärtige, permanente Beziehung und gleichzeitig ein gewisses Vertrauensverhältnis zu einer anderen Person beschreibt. Der Ausdruck mag zwar nicht auf den Zipfelbund an sich zurückgehen, dennoch lassen sich in der Bedeutung einige Parallelen finden. Was hat es mit einem Zipfelbund auf sich? Wer trägt ihn wann und wo? Wie bekommt man ihn? Wofür steht er heute und was war seine ursprüngliche Bedeutung? Und vor allem: Was hat der Zipfelbund von 1931 mit der Geschichte der Universität Münster zu tun?

Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir unseren Blick auf die Anfänge der Universität richten und ganz besonders auf das, was eine Universität schon immer ausgezeichnet hat: die Studierenden und deren Anteil an der Gestaltung des Universitätslebens. Heute wird die Universität geprägt von einer Vielzahl unterschiedlicher Hochschulgruppen, die das Universitätsleben mitgestalten und sich etwa aufgrund gemeinsamer künstlerisch-musischer Interessen, politischer Überzeugungen oder aus religiösen Beweggründen zusammengeschlossen haben. Daneben gibt es allerdings noch ältere, traditionellere Zusammenschlüsse von Studierenden, die als Studentenverbindungen bekannt sind. Keine andere Art von Studierendengemeinschaft wird heutzutage von der breiten Masse der Studierenden und Gesellschaft so kontrovers beurteilt wie Verbindungen. Sie sind jedoch grundlegend mit der Entwicklung der Universitäten verknüpft, prägen trotz ihren unterschiedlichen Ausrichtungen ihr Bild und machten sie zu dem was sie heute sind: Orte der Diversität. Jedoch muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass die Interessen von Studentenverbindungen über die Zeit des Studierens hinausreichen, da sie auf das Prinzip des „Lebensbundes“ ausgerichtet sind.

Beleuchten wir also die Bedeutung des sogenannten „Zipfelbundes“ für die Universität Münster, so geschieht dies im Kontext der Akademischen Turnverbindung (ATV) Westmark. Es handelt sich hierbei um eine Studentenverbindung, die weder schlagend noch farbentragend ist und seit dem Jahr 1984 auch weibliche Mitglieder aufnimmt. Der Zipfel von 1931 kann einem ihrer Mitglieder zugeschrieben werden und befindet sich im Archiv des Verbindungshauses, das sich seit 1961 in der Burchardstraße 24 befindet. Mitglieder der Verbindung durchlaufen in ihrem Verbindungsleben verschiedene Phasen, angefangen mit dem Fuxen-Status über die Burschung, die den Fux zu einem vollwertigen Mitglied der Verbindung macht, bis zu den Alten Herren bzw. Alten Damen nach Beendigung des Studiums. Es herrscht das „Lebensbundprinzip“, sodass die in der Studienzeit geschlossenen Verbindungen und Freundschaften ein Leben lang fortgeführt werden. In der Heranführung der Neumitglieder an das breite Spektrum an Traditionslinien, historischen Hintergründen und Grundlagen des eigenen Vereinswesens können erstere auf die sog. Fuxenfibel zurückgreifen. Sie informiert etwa über studentische Korporationen allgemein, die Geschichte des eigenen Dachverbandes, des Akademischen Turnbundes und die Stadt Münster. Die Traditionen der eigenen Verbindung werden ebenfalls erläutert und die Bedeutung eines Zipfelbundes beschrieben. Deshalb erscheint es sinnvoll, auf die Ausführungen der Fibel zurückzugreifen, da der Zipfel aufgrund der an ihm sichtbaren Couleur der beiden übereinanderliegenden Bänder in den Verbindungsfarben rot-weiß-gold und des Zirkels, des monogrammartigen Erkennungszeichens der ATV Westmark, etwas sehr Individuelles darstellt und daher auch in seiner Bedeutung als solches verstanden werden sollte. Das Tragen eines Zipfelbundes zeichnet seine:n Träger:in als vollwertiges Mitglied seiner jeweiligen Korporation aus.

Das besondere Prinzip des Zipfelbundes besteht darin, dass er lediglich durch Zipfeltäusche wachsen kann. Anlässlich seiner Burschung erhält ein Fux von seinem Leibburschen[1] seinen ersten und einzigen Bierzipfel und damit den Beginn des eigenen Zipfelbundes. Der Leibbursch erhält im Gegenzug einen Weinzipfel von seinem Fuxen dezidiert[OA1] , und beide werden in einer feierlichen Zeremonie getauscht. Zumeist finden sich die Namen der Tauschenden und der Anlass oder das Semester auf dem Zipfel eingraviert. Der Zipfelbund aus dem Jahr 1931 umfasst einen Bierzipfel (den größten der drei), einen Weinzipfel und einen Sektzipfel (den kleinsten und schmalsten). Der Zipfelhalter und die Sicherungskette sind nicht mehr vorhanden, jedoch verraten genau diese Bestandteile den Ort, wo der Zipfel getragen wird: er wird auf der rechten Seite entweder am Hosenbund oder am Gürtel befestigt. Der einzelne Zipfel lässt Platz für verschiedenste Gravuren, die jedoch nicht obligatorisch sind, so finden sich in der Regel ein Zipfelspruch und das Geburtsdatum des Tauschpartners. Grundsätzlich hat ein Zipfeltausch folgende Funktion: „Zipfel dienen der Erinnerung und Manifestierung freundschaftlicher Bande.“[2] Mit der Unterscheidung zwischen Bier-, Sekt- und Weinzipfels gehen jedoch auch andere Vorgaben und Bräuche den Tausch betreffend einher, die nun einmal kurz erläutert werden sollen:

  1. Der Sektzipfel: Es gibt ihn in zweierlei Ausführungen. Wenn er golden ist, hat ein Zipfeltausch zwischen Ehepartnern stattgefunden. Jedoch finden wir hier eine silberne Ausführung vor, welche zwar nicht die Beziehung zu einem Ehegatten ausdrückt, jedoch eine besondere Beziehung zu jemandem der/die dem anderen Geschlecht angehört. Vor allem wird er genutzt, um feierliche Bande mit einer nicht-korporierten Person zu schließen, die den Zipfel dann an einer Brosche oder einem Armreif tragen kann. Bei diesem Zipfelbund hat der Träger im Sommersemester 1931 einen Tausch mit seiner Schwester vorgenommen. Dabei ist das Tauschen von Sektzipfeln mittlerweile verhältnismäßig seltener, da Nicht-Korporierte in aller Regel nichts von diesem Brauch wissen oder als Außenstehende nicht ausreichend stark in das Verbindungsleben und seine Traditionen eingebunden sind.
  2. Der Weinzipfel: Viel häufiger werden Weinzipfel getauscht, mal aus einem besonderen Anlass und mal als Zeichen der Freundschaft unter zwei Burschen. Dass der Tausch von Weinzipfeln üblicher ist, wird auch an dem Zipfel von 1931 sichtbar, da der Träger mit drei verschiedenen Personen einen Weinzipfel getauscht hat. Wichtig beim Weinzipfel ist also die Zugehörigkeit der Tauschenden zu einer Verbindung, ob es jedoch jemand aus der eigenen Verbindung ist oder aber einer anderen, spielt dabei keine Rolle.
  3. Der Bierzipfel: Ihm kommt insofern eine Sonderstellung zu, als dass es pro Zipfelbund nur einen Bierzipfel gibt, nämlich den der vom Leibbursch zur Burschung überreicht wurde. Damit wird sozusagen das besonderes Verhältnis zwischen Fux und Leibbursch öffentlich gemacht. Darüber hinaus ist der Bierzipfel das Symbol der endgültigen Zugehörigkeit zur Verbindung. Er ist eigentlich ein Unikat am Zipfelbund, wenn jemand jedoch mehreren Verbindungen angehört, sogenannte Doppel- und Mehrfachbündner, dann haben sie pro Verbindung jeweils einen Bierzipfel, auf dem sowohl Zirkel als auch die Farben derselben zu sehen sind.

Der Zipfeltausch ist seit Jahrzehnten ritualisiert und wird heute zumeist immer noch so praktiziert. Daher soll nun einmal der Bierzipfeltausch erläutert werden, bei dem vor allem der adäquate Rahmen, wie beispielsweise eine Verbindungsveranstaltung in Form einer Burschung, und darüber hinaus die Anwesenheit von engen Freunden, die gleichzeitig die Rolle der sog. Sekundanten einnehmen können, eine Rolle spielen[OA2] . Diese werden gebraucht, weil die Tauschenden ihre Zipfel während des Übergabezeremonielles nicht berühren dürfen und sie daher assistieren müssen. Ein Zipfeltausch der ATV Westmark läuft wie folgt ab: Pro Person gibt es insgesamt drei halbe Liter Bier, welche jeweils in einem Zug getrunken werden sollen; jedoch kann sich das Tauschritual durchaus über einen ganzen Abend erstrecken, sodass nicht alles auf einmal getrunken werden muss. Beim ersten Bier hängt der am Glas mit dem Haken befestigte Zipfel, den der Tauschende verschenken möchte, außerhalb des Glases. So trinkt der Fux aus dem Glas mit dem Weinzipfel und der Leibbursch aus dem mit dem Bierzipfel. Beim zweiten Bier trinken die Tauschenden aus den gleichen Gläsern samt den jeweiligen Zipfeln, jedoch werden diese jetzt von den Sekundanten in das Glas hineingehängt. Schlussendlich werden die Zipfel beim dritten Bier in das Glas hineingelegt. Nun trinken die Tauschenden nur die Hälfte ihres Bieres, tauschen dann die Gläser samt den Zipfeln und trinken sie über Kreuz aus, sodass sie am Ende ihren zu erhaltenen Zipfel in den Mund nehmen können. Die Zipfel werden von den Sekundanten mit zwei Bierdeckeln ausgedrückt und an die Brusttaschen der Tauschenden angehängt. Am Ende der Veranstaltung dürfen sie ihren Zipfel dann letztlich am Zipfelbund befestigen. Damit wird die eingangs gemachte Analogie zur Redewendung „jemandem am Rockzipfel hängen“ auch deutlich, denn durch den Zipfeltausch befinden sich Tauschenden in einer bewusst eingegangenen permanenten Verpflichtung zueinander und somit in einem Vertrauensverhältnis.

Doch wozu überhaupt die Zipfel? Die Herkunft des Zipfelbrauches ist nicht ganz klar; einige Quellen berichten, dass die Zipfel auf größeren Veranstaltungen an die Gläser gehangen wurden, damit jeder sein Glas erkenne, um Krankheitsübertragungen zu verhindern. Für den Bierzipfel gilt außerdem der Brauch, dass der Bursch seinem Leibfux beim Tausch einen Notgroschen zwischen den Bändern befestigt, damit dieser ein letztes Bier oder eine Mitfahrgelegenheit nach Hause bezahlen könne. Andere Quellen geben zur Herkunft des Zipfelbrauchs an, dass die Zipfel zunächst als geheimes Erkennungszeichen getragen wurden als Verbindungen in Deutschland verboten waren[3].

Die Ursprünge dieser Traditionen der ATV Westmark zu Münster liegen also weit zurück, ebenso wie die Geschichte der Studentenverbindungen allgemein und die Anfänge der Verbindungen in Münster. Die Gründung der ersten Universitäten fand bereits im Mittelalter statt und mit ihnen einher gingen die ersten Zusammenschlüsse von Studenten. Je nach Herkunft der einzelnen Studenten schlossen sich jene mit gleicher Herkunft als Gemeinschaft zusammen. In den Anfängen der Universitäten fand also eine Gemeinschaftsgliederung nach der sogenannten landsmannschaftlichen Herkunft statt, aus denen im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum die Studentenverbindungen hervorgingen. Die zunächst aus Not- und Schutzgründen zusammengeschlossenen Gemeinschaften entwickelten sich in den darauffolgenden Jahren zu echten Lebens- und Studiengemeinschaften. An den Universitäten wurden diese Vereinigungen jedoch zunächst mit Skepsis betrachtet und wiederholt auf Grund von studentischen Krawallen und Duellen verboten[4]. Im 18. Jahrhundert entstanden die ersten deutschen Studentenorden, die sich entgegen des Prinzips der Herkunft des einzelnen Mitglieds etablierten. Ihre Ziele bestanden darin, einander in Notlagen zu unterstützen und ein freundliches Miteinander zu pflegen, jedoch lösten sich diese auf Druck der Universitätsbehörden schon im ausgehenden 18. Jahrhundert wieder auf. Parallel dazu gründeten sich die ersten sogenannten Corps, die sowohl landsmannschaftliche Züge als auch Eigenschaften der Studentenorden aufwiesen, denn sie gründeten sich zwar nach regionaler Herkunft der Mitglieder, vertraten aber darüber hinaus auch Werte wie Freundschaft und Lebensbund. Nach den Befreiungskriegen im Jahr 1815 bildeten sich aus patriotisch-nationalistischen Motiven aus einem Teil der (weiter-)bestehenden Corps die sog. Urburschenschaft[5] an der Universität Jena heraus. Die sich in ganz Deutschland verbreitende burschenschaftliche Bewegung positionierte sich politisch stark und beanspruchten für sich Ideen wie die des „Turnvater Jahn“, der sich für eine geeinte Nation, das Ende der Kleinstaaterei und eine militärisch geschulte sowie nach Freiheit und Einheit strebende Jugend aussprach[6]. Friedirch Ludwig Jahn war Offizier beim Lützowschen Freikorps zur Zeit der Befreiungskriege, einem Freiwilligenverband der preußischen Armee, dem auch viele Studenten angehörte um gegen Napoleon zu kämpfen, weshalb er dort einen Nährboden für seine Ideen und deren Verbreitung fand[7]. Ursprünglich bestand die Absicht, alle Studenten in Deutschland in einer Burschenschaft zu vereinigen, ebenso wie es für die einzelnen Splitterstaaten Deutschlands zu einer Nation vorgesehen war, daher kann in diesen Bestrebungen auch eine Art Symbolik erkannt werden[8]. Schon zwei Jahre nach Gründung der Urburschenschaft versammelten sich im Jahre 1817 insgesamt 500 Studenten (in ganz Deutschland gab es zu diesem Zeitpunkt ca. 8.000 Studenten) auf dem Wartburgfest. Die Menge an korporierten Studenten nahm zu und ihr Begehren nach nationaler Einheit wurde radikaler, sodass sie mächtige, von der Kleinstaaterei profitierende Gegner und deren Groll auf sich zogen. Die politische Verfolgung nahm weiter zu, als der Burschenschaftler Karl Ludwig Sand aus politischen Motiven den Schriftsteller August von Kotzebue ermordete und Unruhen gegenüber jüdischen Mitbürgern in den sog. ‚Hep-Hep-Krawallen’ im Jahr 1819 zunahmen.  Dies zeigt sich in den Karlsbader Beschlüssen aus eben diesem Jahr und dem darin u.a. enthaltenen Verbot der Burschenschaften als damaliger Träger nationaler und liberaler Ideen, das erst in Folge der ersten demokratischen Nationalversammlung im Jahr 1848 abgeschafft werden sollte[9]. Im Rahmen dieser Versammlung, an der zahlreiche korporierte Parlamentarier teilnahmen, wurden schließlich die Farben (Couleur) der Urburschenschaft, nämlich Schwarz- Rot- Gold, die wiederrum auf die Farben des Lützowschen Freikorps aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon zurückgingen und aus dem sich zu großen Teilen die erste Burschenschaft rekrutierte, zu den Staatsfarben erklärt[OA3] [10]. Mit Beginn der Kaiserzeit begann auch die Blütezeit der Studentenverbindungen, wobei sich im Zuge dessen auch die ersten Damen- und konfessionell gebundenen Studierendenverbindung herausgeformten, die, wie auch heute zahlreiche andere Verbindungen, das Schlagen von Mensuren (= akademisches Fechten) und teilweise das Farbentragen (= Band und Mütze in den Farben der eigenen Verbindung) für sich ablehnten[11].

Korporiert zu sein war in der Kaiserzeit en vogue und damit auch die dahinterstehenden Ideen wie die des bereits erwähnten ‚Turnvater Jahns’. Aber wieso stand eigentlich das Turnen so im Vordergrund[12]? Bereits zu Zeiten ihrer jeweiligen Gründung bestand oftmals Uneinigkeit darüber, wie geschlossen bzw. wie offen sich Verbindungen konstituieren wollten. Während Burschenschaften eher als geschlossene Gruppe auftraten, entstand ein zweites Lager, welches mit möglichst vielen jungen Menschen ein Bündnis eingehen wollte. Turnvereine bildeten zu Zeiten Jahns in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen beliebten Treffpunkt, der auch noch nach Außen wenig verdächtig wirkte. Darüber hinaus kam der Turnhalle als Treffpunkt den Ideen Jahns insofern zu Gute, als dass sie Stätten des Sportes waren und die Leibesertüchtigung ein Muss für eine militärisch geschulte Jugend darstellte. Und so bildeten sich ab den 1860er Jahren auch die ersten Turnvereine und Turnverbindungen an Universitäten heraus, die den Jahn’schen Ideen folgten und sich zwar als Korporationen, nicht aber als geschlossene Gruppen verstanden, was sie u.a. durch die Ablehnung des Farbentragens auch nach außen präsentierten[13]. Im Jahr 1902 wurde die Universität Münster von Kaiser Wilhelm II., seiner Zeit getreu Corps-Student in Bonn, zu einer solchen [OA4] ernannt, wodurch er auch Namensgeber wurde[14]. In diesem Jahr lag die Quote der korporierten Studierenden bei 52% im deutschsprachigen Raum, sie waren also aus der Universitätslandschaft nicht wegzudenken[15]. Zwar hatten sich bereits zuvor Korporationen in Münster konstituiert, die Statusverleihung einer Voll-Universität gab dem Korporationswesen in Münster jedoch einen erheblichen Schub. So gründete sich etwa die ATV Westmark zu Münster am 13. Dezember 1902. Unter ihren Gründungsmitgliedern befand sich auch Wilhelm Becker (1858-1908), der zu dieser Zeit der Turn- und Fechtlehrer der Universität Münster war und gebürtig aus Osnabrück stammte. Er konnte durch seine Arbeit und den Austausch mit Studierenden unter letzteren für die Gründung eines Akademischen Turnvereins werben. So findet er sich auch unter den Mitgliedern in den Sommersemestern 1903 und 1904[16]. Wir sehen also, dass eine Verschiebung der Einstellung der Universitäten gegenüber den Studierendenverbindungen stattgefunden hatte und sich selbstverwaltende Vereinigungen von Studierenden erwünscht waren. Dass diese Ideen durch Menschen wie Turnlehrer Becker sogar unter den Studierenden beworben und verbreitet wurden, gründet sich wahrscheinlich vor allem aus dem Grundprinzip des Sportes, das die Turnverbindungen einte. Als verbindendes und verpflichtendes Element sehen die Westmärker nämlich nicht etwa eine bestimmte Konfession oder eine politische Gesinnung an nein, sie [OA5] verbindet der gemeinsame Sport, wobei die Sportarten je nach Saison wechseln[17]. Während des Aufkommens der Turnverbindungen fokussierten auch andere Arten von Verbindungen den Sport und sahen ihn als bereicherndes Element im gemeinschaftlichen Leben an. Darüber hinaus sahen sie im Sport eine Möglichkeit, die Korporierten weniger Zeit in den Kneipen verbringen zu lassen und neben den positiven gesundheitlichen Auswirkungen des Sportes außerdem die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen voranzutreiben. Jedoch gab es einen weiteren Gedanken, der die damalige Popularität des Sporttreibens vorantrieb, und ggf. aus heutiger Sicht problematisch erscheint, jedoch dem Zeitgeist entsprach: So sah man in ihm ein Mittel, die Nation durch die Verbesserung der Wehrhaftigkeit der jungen Menschen voranzutreiben und langfristig zu stärken[18]. Es fand also zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine gewisse militärische Glorifizierung innerhalb jeglicher Art von Studentenverbindungen statt. Dies stand auch mit dem 100-jährigen Jubiläum der Befreiungskriege im Zusammenhang, an denen die Studenten ja ebenfalls maßgeblich beteiligt gewesen waren. Anlässlich des Jubiläums fanden 1913 Sportwettkämpfe in Breslau statt, wo ein großer Teil Studierender erfolgreich teilnahm, darunter beispielsweise auch katholische Studenten[19]. Bereitete man sich schon auf das 1915 bevorstehende Jubiläum der Gründung der Jenaer Urburschenschaft und das Ende der Befreiungskriege vor, so zogen alle wehrfähigen Männer ein Jahr darauf in den Ersten Weltkrieg, der zunächst einmal das Ende des akademischen- und Verbindungslebens einläutete.

Das Verbindungsleben kam nach dem Krieg schnell wieder in Gang, was vor allem durch die Tatsache begründet wurde, dass der Staat nicht die finanziellen Mittel zur Unterstützung der Studierenden in Form von Mensen oder Studentenwohnheimen aufbringen konnten, sodass die Studierenden weitestgehend allein dastanden und in Verbindungen eine Art Zufluchtsort mit dem Halt einer Gemeinschaft darstellten.[OA6]  Allerdings war vor allem in den studentischen Akademikerkreisen der Groll über den verlorenen Krieg und die Trauer um verlorene Verbindungsgeschwister groß, was die grauenvollen vorausdeutenden Schattenseiten der bevorstehenden Zeit bereits andeutete: „Revanchismus und leider auch Antisemitismus wurden zu Leitbildern einer ganzen verlorenen Generation und machten auch vor dem ATB nicht halt.“[20] Antisemitismus ist auch heute noch ein Thema, mit dem studentische Korporationen häufig in Verbindung gebracht werden, weshalb dieses Thema nun einmal kurz näher beleuchtet werden soll, auch wenn nicht im Ansatz der Anspruch auf Vollständigkeit erreicht werden kann.  Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass schon in den Anfängen der ersten Burschenschaften judenfeindliche Stimmen laut wurden, sowohl auf dem Wartburgfest als auch auf dem ersten 1818 in Jena tagenden Burschentag, wo darüber diskutiert wurde, ob ein Bursch deutscher Abstammung und christlichen Glaubens sein müsste. Dieser Vorschlag wurde als allgemeingültige, also alle Burschenschaften betreffende Regelung, abgelehnt und so oblag es den einzelnen Burschenschaften, wie sie damit verfahren wollten. Doch schon ein Jahr später wurde die „deutsch-christliche“ Abstammung als Voraussetzung zur Aufnahme in die Satzung aufgenommen. In den Argumentationen finden sich vornehmlich religiöse Begründungen für den Ausschluss jüdischer Studenten, es werden jedoch auch vermeintliche stereotypische persönliche Eigenschaften genannt. Erst im Jahre 1831 wurden diese Regelungen auf dem Burschentag in Dresden wieder abgeschafft und die Burschenschaften öffneten sich jüdischen Studenten, die diese Möglichkeit auch wahrnahmen und begannen, in Burschenschaften einzutreten[21]. Ende des 19. Jahrhundert nahm die Diskussion um die Frage nach der Aufnahme von jüdischen Studenten wieder Fahrt auf und es bildeten sich Verbände, die stark dagegen oder eben dafür war, wodurch die Positionierung aller Burschenschaften verlangt wurde und der anfängliche religiöse Antijudaismus immer stärker in einen rassistischen Antisemitismus umschwenkte[22]. Ähnlich verhielt es sich auch in der Zwischenkriegszeit, in der dieses Thema erneut an Popularität gewann. Jedoch sei an dieser Stelle betont, dass diese Einstellung sicherlich für eine Vielzahl von Verbindungen galt – bei christlich-konfessionell gebunden Verbindung galt ja ohnehin die Voraussetzung der jeweiligen Glaubensgemeinschaft anzugehören[23] – aber eben nicht alle Verbindungen einen sogenannten „Arierparagraphen“ einführten. Dennoch kann festgehalten werden, dass Verbindungen eine der ersten Instanzen darstellten, die jüdischen Bürger aus dem akademischen und dem öffentlichen Leben ausschlossen. Auch die politische Stimmung war in der Zwischenkriegszeit erheblich aufgeladen: So ermordeten 1919 von Reichskanzler Friedrich Ebert aufgestellte Freikorps, in denen sich auch viele Korporierte befanden, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Vorsitzende der KPD[24].[OA7]  Außerdem gab es außerdem von offizieller Seite der Verbindungen neben den Unvereinbarkeitsbeschlüssen bezüglich jüdischer Studierender auch solche, die Parteien wie die KPD, SPD und das Zentrums betrafen[25]. Auch wenn viele Korporierten mit den Ansichten der NSDAP übereinstimmten, ist es umso verwunderlicher, dass, trotz des hohen Zulaufs, den Verbindungen zur Zeit der Weimarer Republik erhielten, die Nationalsozialisten bis zum Jahr 1933 verhältnismäßig wenig Präsenz an der Universität Münster zeigten[26]. Hochschuldozenten und Studierende insgesamt seien damals größtenteils eher ‚republiksfeindlich’ oder auch ‚antidemokratisch’ gesinnt gewesen – und daher eigentlich grundsätzlich empfänglich für die nationalsozialistische Partei, die sich ebenfalls auf solche Vorstellungen berief. Dieser Trend zeichnete sich also nicht lediglich bei den Korporierten ab, sondern an den Hochschulen/Universitäten generell. Außerdem lässt sich festhalten, dass die Studentenverbindungen in diesen Zeiten deutlich präsenter im Hochschulleben waren, als wir es von heute kennen. Zu besonderen universitären Anlässen chargierten Verbindungen aus Münster, wie es beispielsweise auf einem Foto im Archiv der Universität zu sehen ist[27]. Im Wintersemester 1928/29 konnte sich die Hochschulgruppe NSDStB (Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund) in Münster etablieren und sollte bereits 1931 mitgliedstärkste politische Universitätsgruppe werden. Zu den bekanntesten Persönlichkeiten des Studentenbundes gehörte der münstersche Student Albert Derichsweiler, der dort eine steile Laufbahn ablegte und schließlich 1934 die Führung übernahm[28]. Das Jahr 1933 sollte für die Universität und die vorherrschende politische Stimmung einen Wendepunkt darstellen, der sich wohl am deutlichsten am 10. Mai 1933 bei der Bücherverbrennung auf dem Domplatz unter hoher Beteiligung von Studierenden und Vertretern der Universitätsbehörden zeigte. Betroffen waren vor allem Bücher jüdischer Autoren, die zunächst an einem sogenannten „Schandpfahl“ angebracht und schließlich in den Folgetagen verbrannt wurden, was den Hintergrund hatte, dass die Studierenden damit ihre Zustimmung gegenüber der neuen Regierung ausdrücken sollten. Auch zu diesem Anlass chargierten Verbindungen aus Münster[29]. Beim Chargieren wird bei den Westmärkern, ebenso wie bei den meisten anderen Verbindungen, der sogenannte Vollwichs getragen, eine sehr festliche, traditionelle Kleidungskombination, die infolge der sog. ‚Polenschwärmerei’ 1830/31 insbesondere in Form der prägnanten Pekesche[30], die von polnischen Kavallerieverbänden getragen und von Studentenverbindungen übernommen wurde. Dabei wird der Zipfelbund an der linken Schulter getragen[31] und zeigt Couleur und Wappen der Verbindung an, wodurch von außen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Verbindung, deren Werten, Tradition und Geschichte deutlich wird. Der Zipfelbund aus dem Jahr 1931 stammt also aus einer politisch sehr unruhigen Zeit, in der Studentenverbindungen jedoch auch noch einen ganz anderen Stellenwert im Universitätsleben hatten. Darüber hinaus stellten sie an der WWU eine der letzten Gruppen dar, die aufgrund ihrer traditionellen Eigenständigkeit sich der Gleichschaltung versuchten zu erwehren und an ihren Bräuchen und Traditionen festzuhalten, was auch zu öffentlichen Protesten führte: Im Jahr 1934 wurde beschlossen, dass das konfessionelle Prinzip in Verbindungen, sofern vorhanden, beseitigt werden musste, woraufhin sich münstersche katholische Korporierte in Form von Kundgebung und dem illegalen öffentlichen Tragen der Verbindungsfarben zu Protesten gegen den Totalitätsanspruch des Staates gezwungen sahen. Jegliche Versuche der Selbstbehauptung schlugen jedoch fehl und so lösten sich, größtenteils auf Grund der von Hitler angestrebten ‚vollständigen Gleichschaltung’, alle Verbindungen in der Folgezeit auf[32].

In der Nachkriegszeit gründeten sich viele der Studentenverbindungen nicht nur in Münster wieder, so auch der ATV Westmark im Jahr 1950. Die Studentenbewegung ab Ende der 1960er Jahre führte auch im Korporationswesen zu teils heftigen erneuten Ausrichtungsdebatten. Dies äußerte sich insbesondere, aber nicht nur im ATB und der ATV Westmark in der sog. ‚Damenfrage’. Diese wurde dahingehend gelöst, dass einzelne Mitgliedsbünde des ATB 1984 probehalber die Aufnahme von Frauen erlaubt wurde, und seit 1992 der ATB seinen Mitgliedsbünden die Aufnahme von Frauen freistellte.

Häufig geäußerte Kritikpunkte an Verbindungen allgemein gehen etwa aus dem vom AStA der Universität Münster veröffentlichen Reader zu Studentenverbindungen aus dem Jahr 19xx hervor. So wirft der AStA beispielweise der „Deutschen Burschenschaft“ Rechtsextremismus und Rassismus vor, darüber hinaus kritisiert er die Mensur, die Elitenbildung und die Nutzung von ‚Seilschaften’ auf dem potenziellen zukünftigen Arbeitsmarkt. Gleichzeitig wird dabei auch der Ausschluss von Frauen in den meisten Verbindungen kritisiert[33]. Der Einfluss der Verbindungen auf die Universität hat im Zuge der 68-er Bewegung und der damit einhergehenden politischen Neuausrichtung der studentischen Gremien zunehmend abgenommen. Auch die Mitgliederanzahl in den Studentenverbindungen reduzierte sich und in den 1970ern sollten nur noch 2 % der Studierenden korporiert gewesen sein. Dieser Trend erfährt bis heute ein stetiges Auf und Ab, jedoch waren nie wieder so viele Studierende korporiert wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts[34].

Im Jahre 2020 bestand der ATV Westmark aus 25 Studierenden und über 120 Alten Damen und Alten Herren[35]. Dies macht selbstverständlich nur einen sehr geringen Teil der münsterschen Studierendenschaft aus, jedoch sollte bedacht werden, dass es allein in Münster ca. 30 Verbindungen mit unterschiedlich großer Aktivitas gibt. Davon sind drei Verbindungen reine Damenverbindungen und zwei gemischte Verbindungen, den größten Teil machen noch immer (vor allem katholische) Männerverbindungen aus[36]. Wird das verhältnismäßig junge Alter der Universität berücksichtigt[37], überrascht die hohe Dichte an studentischen Korporationen. Ihre Verbindungshäuser prägen vor allem im beliebten Kreuzviertel, in der Altstadt und im Erphoviertel das Stadtbild. Sie können an den in den Farben der Verbindung gestalteten Fahnen am äußeren der Häuser erkannt werden[38]. Sie prägen also heutzutage weniger das Universitätsleben, weil sie beispielsweise nicht mehr bei offiziellen Anlässen der Universität chargieren, sondern lediglich auf verbindungsinternen Veranstaltungen, und sich die meisten Verbindungen in Münster auch nicht mehr als Hochschulgruppe eintragen lassen, dafür aber das Stadtbild und die Geschichte deutscher Universitäten und damit eingeschlossen auch der Westfälischen Wilhelms-Universität.